Zu den Beiträgen des Sammelbandes

Ralf-Peter Fuchs/Winfried Schulze (Hg.): Wahrheit, Wissen, Erinnerung. Zeugenverhörprotokolle als Quelle für soziale Wissensbestände der Frühen Neuzeit. Münster, Hamburg, London  2002.

Einführend werden von Ralf-Peter Fuchs und Winfried Schulze quellenkritische Probleme, die mit Protokollen von Zeugenverhören verbunden sind, skizziert. In diesem Kontext wird auf die Überlieferung des rechtlichen Verfahrens, das Problem von Subjektivität und Authentizität und auf den Begriff des sozialen Wissens eingegangen.

Der Hauptteil des Bandes beginnt mit zwei Beiträgen, die in unterschiedlicher Weise erste Zugänge zur Problematik der frühneuzeitlichen Zeugenverhöre vermitteln: Die Beispiele von Zeugenverhören, die Arnold Esch vorstellt, zeigen die Möglichkeiten auf, Erkenntnisse über die Zeitwahrnehmung im Mittelalter zu gewinnen. Beleuchtet werden zudem Facetten mittelalterlichen Alltagslebens, wobei sich – im Gegensatz zu den kaiserlich-kommissarischen Verhören des 16. und 17. Jahrhunderts – über Verhöre, die anlässlich von mittelalterlichen Heiligsprechungsverfahren durchgeführt wurden, auch ein Blick auf viele weibliche Zeugen und ihre Wissensbestände und Alltagsnöte eröffnet. Verhöre der Berner Kriminaljustiz, denen um 1500 Angeklagte, Verdächtigte und Zeugen unterzogen wurden, machen anschließend Vorgänge gesellschaftlicher Marginalisierung in dieser Zeit nachvollziehbar. Markus Friedrich untersucht dagegen Befragungen gelehrter Theologen, in denen nicht nur die Angst vor dem gerichtlichen Verhör schlechthin zum Ausdruck kam, sondern die Skepsis gegenüber dieser Form der Suche nach „Wahrheit“ konkret formuliert wurde. In der Argumentation der Gelehrten, dass der Zwang, sich in Kürze festlegen zu müssen, der Wahrheit abträglich sei, und in ihrem Verhalten gegenüber der Obrigkeit manifestiert sich eine gewisse Renitenz, die bei anderen, nichtgelehrten Untertanen freilich in anderen Formen Ausdruck finden musste.

Es folgen zwei Beiträge zur Zeitwahrnehmung und zum Wissen über die Vergangenheit in der Frühen Neuzeit. Ralf-Peter Fuchs wendet sich dem Zeit-Wissen von Untertanen unter der Fragestellung zu, welche lebensweltliche Bedeutung der Vergangenheit zukam und untersucht zum einen die strukturellen Grundlagen der Erinnerung einfacher Leute im 16. und 17. Jahrhundert. Zum anderen wird der Frage nachgegangen, was diese Zeugen überhaupt als erinnerungswürdig betrachteten. Schließlich werden Erweiterungen der Wissensbestände anhand von Zeugenverhören des 18. Jahrhunderts skizziert. Erscheint in diesem Kontext die Bereitschaft der Zeugen, sich mit den Zeiträumen vor ihrer eigenen Lebenszeit auseinander zusetzen, als eher gering ausgeprägt, zeigt sich im Aufsatz von Stefan Breit, dass soziales Wissen von jenen Zeiten, die die Zeugen die „vorzeiten“ nannten, durchaus über mehrere Generationen vermittelt werden konnte, sofern das Interesse der Bauern davon berührt wurde. Zeugenaussagen des frühen 17. Jahrhunderts zur Schenkung eines Waldes an die „ganze Welt“, die angeblich Jahrhunderte zuvor durch eine Jungfrau erfolgt worden war, lassen sich vor dem Hintergrund von obrigkeitlichen Versuchen interpretieren, den Bauern die Freiheit einer unbeschränkten Waldnutzung zu entziehen.

Marco Bellabarba befasst sich mit dem Wissen einfacher Dorfbewohner um Herrschaft und Herrschaftsräume. In ihren Stellungnahmen, die anlässlich von Prozessen des Fürstbistums Trient gegen verschiedene Adelshäuser seit dem 15. Jahrhundert abgegeben wurden, lässt sich erkennen, woran sie für sich festmachten, wem die Herrschaft in einem bestimmten Gebiet zukam. Entrollt wird eine „Rhetorik des Handelns“: Nur wer Herrschaftspraktiken konkret durchführte, hatte die Chance, als Herr anerkannt zu werden. Dieser Logik folgten weitgehend auch die Prozessstrategien, indem die Zeugenverhöre als gewichtiger Beweis dieser Praktiken ins Feld geführt wurden. Allerdings sollte im Verlaufe des 17. und 18. Jahrhunderts demgegenüber der Urkundenbeweis an Bedeutung erheblich zunehmen. Alexander Schunka untersucht anschließend, auf welche Weise sich Herrschaft und Herrschaftsstile in der Erinnerung einfacher Landbewohner einprägten, und kommt zu dem Ergebnis, dass es noch um die Wende zum 17. Jahrhundert gerade die nicht verrechtlichten Formen des Konfliktaustrags waren, die sich im Gedächtnis der Untertanen sedimentierten. Allerdings zeigt sich am Beispiel des Sebastian Schertlin von Burtenbach auch, dass adeliger Gewalthabitus zu einem negativen Bild eines Herrn und seiner Herrschaftszeit führen konnte. Die Bedeutung, die die im Alltag erfahrbare Machtausübung für das Herrschaftsverständnis der Untertanen hatte, unterstreicht der Beitrag von Sabine Ullmann, wobei die untersuchten Zeugenverhöre aus dem Nördlinger Raum erkennen lassen, dass der Begriff der „Landesherrschaft“ den Untertanen durchaus geläufig war. Nichtsdestoweniger gaben viele Befragte in den Verhören differenzierte Auskünfte, in denen sich die zersplitterten Machtverhältnisse und -befugnisse widerspiegelten. Auch auf Kaiser und Reich wurde in diesem Zusammenhang eingegangen, so dass sich in den Protokollen auch Elemente bäuerlichen Wissens darüber finden lassen.

Den letzten Teil des Sammelbandes bilden drei Beiträge, die sich auf der Basis unterschiedlicher Formen von Zeugenverhören alltäglichen Vorstellungen über gesellschaftliche Normen zuwenden. Margarete Wittkes Beitrag stellt zunächst die Bedingungen vor, unter denen vorprozessuale Zeugenverhöre in strafrechtlichen Zusammenhängen, im Rahmen der sogenannten Generalinquisition, abgehalten wurden. Die protokollierten Auskünfte aus Verfahren im Fürstbistum Münster von etwa 1580 bis 1620, die, anders als im prozessualen Zeugenverhör, ohne ein festes Frageraster eingeholt wurden, lassen sich als Quellen lesen, die dem Historiker vielfache Einblicke in die Lebenswelt der Zeugen vermitteln. Auch lassen sich Emotionen nachzeichnen und Einstellungen der Untertanen gegenüber dem Phänomen der Gewalt vor allem unter Männern, das häufig Todesfolgen zeitigte, herausfiltern. Im Beitrag von Daniela Hacke geht es dagegen um häusliche Gewalt unter Ehepartnern: Aus Verhören von Zeugen, die im Rahmen der Ehegerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Venedig durchgeführt wurden, werden Einstellungen herausgearbeitet, unter welchen Prämissen solche Gewalt als legitim bzw. illegitim betrachtet wurde. Vorstellungen von Männern wie von Frauen darüber, was als eheliche Ordnung oder als Unordnung galt, wie die Rollen der Geschlechter verteilt zu sein hatten, werden deutlich. Ebenso wird exemplarisch vermittelt, was man über die Nachbarn wusste, zuweilen auch darüber, wie sie sich innerhalb ihrer intimsten Sphäre verhielten. Schließlich arbeitet Martin Scheutz anhand von kriminalrechtlichen Zeugenverhören des 18. Jahrhunderts in Niederösterreich heraus, inwieweit sich obrigkeitliche Normvorstellungen in den Aussagen niederschlugen. Ein intensiver Diskurs um Alkoholgenuss und das obrigkeitlich bekämpfte Spielen lässt erkennen, dass viele Menschen die Ursache für Nichtsesshaftigkeit und Kriminalität darin erblickten. Umdeutungen und eigenständige Interpretationen im Kontext dieser Normenrezeption innerhalb der Bevölkerung zeigen aber auch, dass sich Sozialdisziplinierung nicht einfach als ein Vorgang beschreiben lässt, der stets von Oben nach unten verlief, sondern dass sich die Untertanen selbst untereinander disziplinierten.

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