Tod eines Fährmanns - Profil des Opfers
von Beate Lohmann
Johann als Fährmann
Als Ende Mai 1590 auf der "wetterschen Seite" der Ruhr die Leiche des bereits seit drei Wochen vermissten Fährmanns Johann auff der Rhuer (auch: Johentken auf der Ruhr, Johennken Überführer) aufgefunden wurde, ahnte noch niemand, welch langen und für keine der beteiligten Parteien befriedigenden Rechtsweg der Fall nehmen würde. Zunächst schien alles darauf zu deuten, dass Johanns schlechter Umgang zu seinem Tod geführt hatte.
Johann war der Sohn einer verstorbenen Schwester des Georg Lackum. Das Verhältnis zu seinem Onkel war aber nicht von Herzlichkeit geprägt. Es gab Gerüchte, dass es aufgrund von Erbstreitigkeiten immer wieder zu Streitigkeiten gekommen war. So lebte Johann auch nicht im Kreise seiner Verwandten, sondern hatte seinen Unterschlupf und seine Wohnung ("underschluiff vnnd wonungh"1) bei einem gewissen Jasper auf der Ruhr gefunden. Dieser wohnte zusammen mit seiner Mutter, Lisa Voß, in einer Behausung an der "Schipfartt", gemeint ist eine Fähre.2
Johann schlug sich, wie die Gerichtsakte erkennen lässt, mit Hausiererei und als Fährmann durchs Leben. Aus den vorliegenden Akten geht nicht hervor, welche Fähre er bediente. Zu seiner Zeit existierten zwei Fähren in der Umgegend der Freiheit Wetter: eine Fähre oberhalb der Freiheit, an der Winterhoffs Wiese, und die "Untere Fähre", westlich des Dorfes. Die "Obere Fähre" wurde seit dem 1. Januar 1512 von dem Fischer Jasper op dem Voß betrieben. Es ist denkbar, dass sie auch zu Johanns Lebzeiten von der Familie Voß bedient wurde, da auch für die Jahre 1643, 1703 und 1749 Schiffmänner mit dem Nachnamen Voß verzeichnet sind.3 Ob Lisa Voß oder ihr Sohn Jaspar zu den Betreibern der "Oberen Fähre" gehörten, ist nicht belegt. Aus dem Vertrag des Jasper op dem Voß ist bekannt, dass der Betreiber, falls er Gehilfen für einen Transport benötigte, diesen die Hälfte des Schiffgeldes zahlen musste. Möglicherweise half Johann regelmäßig an der "Oberen Fähre" aus und verdiente sich auf diese Weise seinen Unterhalt. Er kann aber ebenso Handlanger eines Pächters der "Unteren Fähre" gewesen sein, die königlicher Besitz war und verpachtet wurde.4 Der Hinweis in der Akte, dass er bei Jaspar an der Schifffahrt in der Nähe der "hoetenschlacht" wohnte, also an der "Unteren Fähre", kann darauf hindeuten, dass er sich dort als Schiffmann betätigte.
Die wirtschaftliche Lage des Johann auf der Ruhr war offensichtlich nicht gut, auch wenn die Informationen in der Gerichtsakte zuweilen etwas zwiespältig wirken: Auf der einen Seite wird das Bild von einem armen Fährmann skizziert, der sich ein Zubrot erbetteln musste. Auf der anderen Seite hatte er genug Geld, um auf den Jahrmarkt in Köln zu gehen und Kaufgeschäfte abzuschließen. Noch ein bis drei Tage vor seiner Ermordung, vermutlich am 4. Mai, einem Freitag, hatte Johann den Kölner Jahrmarkt besucht, der jährlich anlässlich der Gottstracht stattfand. Das Fest der Gottstracht wurde in der Diözese Köln immer am 2. Freitag nach Ostern gefeiert. Es diente der Segnung der Feldfrüchte.5 Es ist nicht bekannt, ob Johann an den kirchlichen Feierlichkeiten teilnahm. Dagegen ist bezeugt, dass er während seines Aufenthaltes in Köln eine Gürteltasche kaufte.
Johann als Krimineller und "wansinnich mensch"
Den Informationen zufolge, die uns die Gerichtsakte vermittelt, galt Johann von der Ruhr als Gewohnheitsdieb. Sein Bruder war bereits mit dem Gesetz in Konflikt geraten und gehängt worden. Johann soll an dessen Taten beteiligt gewesen sein, aber aufgrund seines jungen Alters die Gnade der Obrigkeit erfahren haben.6 Im Parteischreiben der Familie Lackum wurde behauptet, dass der Tod des Bruders Johann nicht geläutert habe: Er sei unbelehrbar gewesen. Das gleiche wird auch in einer weiteren Quelle, einer Supplikationsschrift von Adligen der Umgebung, hervorgehoben: Auf die "guitlich unnd freundtlich correction"7 seitens Georg und Anton Lackum, habe er mit Morddrohungen reagiert. Er habe weiterhin kriminelle Handlungen begangen. Den Antrieb dazu sollte ihm mitunter Jasper, aber auch Jaspers Mutter, gegeben haben.
Johann von der Ruhr, das Mordopfer, wird in den Parteischriften der Familie Lackum dargestellt, als habe er eine geistige Behinderung gehabt. Wir finden Begriffe wie "unsinnigheitt"8 und "wansinnich mensch"9. Diese Umstände hätten in der Vergangenheit dazu geführt, dass Johann von der Justiz unbehelligt geblieben sei, obwohl er nach Meinung vieler eine harte Strafe verdient habe.
Johanns Tod und die Verdächtigten
Johanns Leiche wies einen Einstich am Hals auf, ansonsten gab es offensichtlich keine Spuren des Kampfes.10 Der Einstich und die Tatsache, dass der Körper mit einem Stein beschwert worden war,11 schlossen aber aus, dass Johann unglücklicherweise ins Wasser gefallen war. Schnell kam zunächst Jasper von der Ruhr in Verdacht, Johann getötet zu haben. Dafür sprach zunächst der Fundort, die "hoetenschlacht", der in der Nähe von Jaspers Haus lag. Das Haus war alleinstehend und hatte keine unmittelbaren Nachbarn, so dass es ein Leichtes für Jasper gewesen wäre, eine Leiche verschwinden zu lassen.
Auch fand man bei den weiteren Ermittlungen einen Dolch an einer Wand in Jaspers Wohnung, die als Mordwaffe in Frage kam.12 Erschwerend kam hinzu, dass Jasper im Besitz der Tasche war, die Johann in Köln gekauft hatte. Überdies galt Jasper als Urheber verschiedener krimineller Handlungen, an denen Johann beteiligt war. Man unterstellte ihm, Johann getötet zu haben, um diesen daran zu hindern, etwas auszuplaudern.
Kritik an der Darstellung Johanns in den Parteischreiben
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Parteischreiben der Familie Lackum Johann als Taugenichts charakterisieren, der der Gesellschaft mehr Schaden als Nutzen bringt: Er habe sich umhergetrieben, anstatt fleißig zu arbeiten. Er habe sich ein Domizil außerhalb der Dorfgesellschaft gewählt und mit Kriminellen umgeben. Er habe gebettelt und sei ein Dieb gewesen. Er habe so provokant gegen die geltenden Normen verstoßen, dass er nach Meinung einiger supplizierender Adeliger den Mord geradezu herausfordert habe.
Johann von der Ruhr wird äußerst negativ in den Parteischriften der Familie Lackum dargestellt. Dies ist mit dem Anliegen der Schriften begründet, nämlich der Wiederherstellung der Ehre Georg und Anton Lackums. Die Anwaltschaft der Lackums hat offensichtlich Johanns Ehre bewusst herab- und die Ehre der Lackums heraufgesetzt, um einen Ehrenkontrast herzustellen.13 Die Informationen, die uns die Akte Lackum vermittelt, können daher insgesamt als parteiisch und zweckgefärbt bezeichnet werden.
1LAV NRW W, RKG L 24, Bd. 2, fol. 217r.
2LAV NRW W, RKG L 24, Bd. 2, fol. 216r.
31643 Schiffmann Adolf Voß; 1703 Ulff Voß, gen. Behling oder Ulff Behling, gen. Voß; 1749 Voß. Siehe Buschmann, Rudolf: Wetter a.d. Ruhr. Ein Beitrag zur Geschichte der Heimat. Wetter 1901 (im Folgenden zitiert als: Buschmann, 1901), S. 416-417. Auch Harkort berichtet von dem Vertrag. Harkort, Friedrich: Geschichte der Freiheit Wetter als Beitrag zur Geschichte der Grafschaft Mark. Hagen 1856, S. 24.
4Buschmann, 1901, S. 425.
5Grotefend, Hermann: Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit 2 Bände, Hannover 1891-1898. Siehe die Online-Ausgabe: http://www.manuscripta-mediaevalia.de/gaeste/grotefend/g_g.htm.
6Fuchs, Ralf-Peter: Recht und Unrecht im Verfahren Lackum - Ein Kriminalfall mit Widerhall, in: Andrea Griesebner, Martin Scheutz, Herwig Weigl (Hg.): Justiz und Gerechtigkeit. Historische Beiträge (16. - 19. Jahrhundert). Innsbruck 2002 (Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit 1), S. 149 – 168 (im Folgenden zitiert als: Fuchs, 2002), hier S. 158-159.
7„[…], weill vir zu guitter maißen gehoirt, daß der Abgestorbene eine lichtfertige Persohn, der mitt aller undugent besudeltt, stelens und raubens nitt muißigh gehenn, iha uff dieser beider behafften guitlich unnd freundtlich correction nitt alleinn sich nitt besseren, sonder sie etzlich mahl ermordenn wollenn, unnd alsoe nitt anders ahn ihme zubesorgenn gewesenn, alß daß ehr endtlich mit galgen unnd raderenn, wie auch seinn einiger Bruder mitt dem strickh aufgehencktt, bestraifft, unnnd der sich aller eherenn getroistett, sie umb leib unnd leben endtlich brengen wurde.“ Supplikation der Adligen; zit. nach Fuchs, 2002, S. 159.
8LAV NRW W, RKG L 24, Bd. 2, fol. 216v.
9LAV NRW W, RKG L 24, Bd. 2, fol. 216v.
10LAV NRW W, RKG L 24, Bd. 2, fol. 215.
11„[…] in deß entliebten buxen ein großer stein […]“,LAV NRW W, RKG L 24, Bd. 2, fol. 218.
12Für Jasper als Täter spreche, daß er einen solchen Dolch an der Wand in seinem Haus hängen habe, LAV NRW W, RKG L 24, Bd. 2, fol. 219v.
13Fuchs, 2002, S. 153.