Geschichte unter dem Mikroskop – Lebenswelten und Mentalitäten vergangener Zeiten
von Miriam Marks
Wie nahm ein Mensch sich und seine Umwelt in der Vergangenheit wahr? Wie gestaltete sich sein Alltag? Welche Themen beschäftigten ihn?
Historismus - Sozialgeschichte - Neuere Kulturgeschichte
Die Gefühls- und Gedankenwelt einfacher Menschen, ihre Lebensweise und ihre Zukunftsentwürfe spielten in der Geschichtsforschung längere Zeit keine bedeutende Rolle. Bei der Betrachtung von Geschichte war der Blick vor allem auf Akteure gerichtet, die Politik machten. Für den klassischen Historismus standen die Taten und Einflüsse der “großen Männer” im Zentrum der Geschichtswissenschaft. Der Schwerpunkt lag auf der Ereignisgeschichte.1
In Abkehr von diesen Methoden begannen die klassische Soziologie und die historische Sozialwissenschaft mit der Entwicklung einer strukturgeschichtlichen Betrachtung historischer Gesellschaften.2 In Frankreich richtet die Annales-Schule dabei ihr Augenmerk immer mehr auf die Betrachtung von Mentalitäten innerhalb einer Gesellschaft. Dabei spielte das Individuum in der Forschung zunächst kaum eine Rolle. 3 Mit Beginn der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts setzte langsam eine neue Form des Umgangs mit Geschichte ein. Im Zuge eines kulturellen Wandels der Wissenschaften im Allgemeinen, begann auch die Geschichtswissenschaft neue Forschungsstrategien zu entwickeln. Die Neuere Kulturgeschichte löste sich von der strukturgeschichtlichen Sozialwissenschaft und untersuchte menschliches Handeln im direkten Zusammenhang von religiösen, gesellschaftlichen und lebensweltlichen Einflüssen. Die tragende Rolle des Individuums wurde dabei nun nicht mehr außer Acht gelassen.4
Historische Anthropologie
Doch erst die Historische Anthropologie rückte das Individuum in das Zentrum der Betrachtung. Dabei machte sie es sich zur Aufgabe, die Gedanken- und Gefühlswelt, die Wahrnehmungskonzepte und Vorstellungen von Personen zu erschließen.5 Historische Untersuchungen zur Alltagsgeschichte6, Geschlechtergeschichte7, Umweltgeschichte8, Sexual9- und Körpergeschichte10 entstanden. Das Augenmerk lag dabei hauptsächlich auf der Erfahrungswelt und dem Selbstverständnis historischer Akteure.11 Als Quelle diente dem Historiker dabei letztendlich alles, was auch nur einen noch so kleinen Blick in die Lebenswelt historischer Personen gewährte. Damit ist noch nichts darüber ausgesagt, wie bedeutend und repräsentativ die einzelne Quelle letztendlich ist. 12
Die Historische Anthropologie teilt sich in einzelne Disziplinen auf, welche unterschiedliche Schwerpunkte beleuchten. Sie sind keinesfalls streng von einander zu trennen. Ihre Übergänge verlaufen fließend und sie ergänzen sich untereinander.13
Mikrogeschichte
Bei der Untersuchung der Gefühls- und Erfahrungswelt der Menschen und ihrer Umwelt versucht nun der Historiker, möglichst dicht an die vergangenen Lebenswelten heranzukommen. Hierfür benutzt er z.B. Tagebücher und Autobiographien als Quellen. Wie Carlo Ginzburg14 und Emmanuel Le Roy Ladurie15 gezeigt haben, können aber auch etwa gerichtliche Verhörprotokolle uns Aufschluss über die Vorstellungen von Menschen vergangener Epochen geben. Auch die mikroanalytische Untersuchung des Mordfalls Lackum und seiner Umstände kann Einblicke in die kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen einer vergangenen Zeit gewähren. Die überlieferten Akten werfen ein Licht auf die Menschen an der Ruhr um 1590. Die Quelle kommt damit alltagsgeschichtlichen Konzepten entgegen, die versuchen, auch die unteren Schichten einer Gesellschaft in die Forschung einzubeziehen. Dabei wird der Frage nachgegangen, wie die Menschen lebten, wie sie ihren Alltag wahrnahmen, welches Verhältnis sie zu “ihrer Geschichte” und den herrschenden Gesellschaftsstrukturen hatten.16
Die Historische Anthropologie betrachtet die Menschen in ihren Lebenswelten. Zu diesen Lebenswelten gehörten auch ihre Nachbarn und deren Wertvorstellungen und Normen, nach denen sie ihre Handlung ausrichteten. Eine mikrogeschichtliche Untersuchung der Menschen im Ruhr-Lippe-Raum um 1590 liefert damit Bausteine zur frühneuzeitlichen Mentalitätsgeschichte.
1 Jordan, Stefan: Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2008 (im Folgenden zitiert als: Jordan, 2008), S. 60 – 61.
2 Jordan, 2008, S 74.
3 Jordan, 2008, S. 78 ff.
4 Jordan, 2008, S. 175 ff.
5 Dressel, Gert: Einführung in die historische Anthropologie, Wien u.a. 1996 (im Folgenden zitiert als: Dressel, 1996), S. 215 ff.
6 Siehe hierzu: Alf Lüdtke: Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a. M. / New York 1989.
7 Siehe hierzu: Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991.
8 Siehe hierzu: Herrmann, Bernd: Umwelt in der Geschichte, Göttingen 1989.
9 Siehe hierzu: Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a. M. 1983.
10 Siehe hierzu: Jakob Tanner: Körpererfahrung, Schmerz und die Konstruktion des Kulturellen, in: Historische Anthropologie 2 (1994), S. 489 – 502.
11 Dressel, 1996, S. 71 ff.
12 Dülmen, Richard van: Der ehrlose Mensch. Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der Frühen Neuzeit, Köln u.a. 1999, S.49.
13 Jordan, 2008, S.154.
14 Siehe hierzu.: Carlo Ginzburg: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt a.M. 1979.
15 Siehe z. B.: Le Roy Ladurie, Emmanuel: Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor, Frankfurt a.M. 1975.
16 Dressel, 1996, S. 263 - 270.