Die Entscheidung für die Folter und die Geständnisse
von Sebastian Matthias Wagner
Der Zweck der Folter in der Frühen Neuzeit
Um die Entscheidung für die Folter im Mordfall Lackum zu verstehen, muss man sich zuerst der Aufgabe der Folter in der Frühen Neuzeit bewusst werden:
Die Folter wurde als rechtlich anerkanntes Mittel zur Wahrheitsfindung begriffen.1 Sie sollte die Wahrheit über das Verbrechen an den Tag bringen.2 Entgegen weitverbreiteter Vorstellungen wurde die Folter nicht unmittelbar eingesetzt, um ein Geständnis zu erlangen: Erst nachdem ein gütliches Verhör gescheitert war und Zeugenbefragungen durchgeführt waren, konnte eine Genehmigung der Obrigkeit für ihre Durchführung eingeholt werden.3 Nicht selten musste vor Anwendung der Folter ergänzend eine juristische Fakultät um Rat gebeten werden.4
Die 1532 von Kaiser Karl V. eingeführte Peinliche Halsgerichtsordnung „Constitutio Criminalis Carolina“ (CCC) schuf erstmals einen gesetzlichen Rahmen für die Folter5. In erster Linie als Strafprozessordnung gedacht, beinhaltet sie ebenfalls wichtige Vorschriften eines Strafgesetzbuches.6
So legte sie nicht nur Strafen sondern auch die Bedingungen für den Einsatz der Folter fest: Nach der Carolina musste die Schuld nahezu bewiesen sein, bevor die Folter eingesetzt werden durfte. Es mussten schwerwiegende Verdachtsgründe („redlich anzeygung“) vorliegen.7 Dieter Baldauf betrachtet die Verfahrensregelung der Carolina als einen großen Schritt weg von der „Willkürjustiz des Spätmittelalters“.8
Allerdings blieb die Folter ein integraler Bestandteil der frühneuzeitlichen Strafrechtsordnung, da im frühneuzeitlichen Strafprozess eine Verurteilung zu Leibes- oder Lebensstrafen nur zulässig war, wenn die Aussage zweier glaubwürdiger Tatzeugen oder aber ein Geständnis des Täters vorlag.9
Die Unterscheidung von Tatsachen und Beweisen
Die Constitutio Criminalis Carolina unterschied klar verschiedene Formen von Beweisen und Tatsachen.
Wenn entweder Indizien durch zwei gute Zeugen10 bewiesen waren oder die Tat selbst durch einen guten Zeugen bewiesen war, durfte die Folter eingesetzt werden.11 Wurde die Tat allerdings von zwei guten Zeugen bewiesen, war der Angeklagte ohne „peinliche Frage“ (Folter) zu verurteilen.12
Die Folter sollte generell dann zulässig sein, wenn Gegenstände, welche offensichtlich dem Angeklagten gehörten, am Tatort gefunden wurden, wenn der Beschuldigte ein außergerichtliches Geständnis ablegte oder die Tat bereits vor ihrer Ausführung angekündigt hatte.13 Diese Indizien stellten jeweils für sich einen Halbbeweis („halbe beweisung“) dar.14 Nicht nur verdächtiges Handeln, der Umgang mit verdächtigen Personen oder der Besitz verdächtiger Dinge, sondern häufig auch der Leumund des Verdächtigen waren entscheidend.15 Nach Ansicht des Historikers Robert Zagolla blieb den Richtern trotz aller Versuche, die Regeln für die Tortur festzuschreiben, „in der Praxis trotz allem ein breiter Ermessensspielraum, welcher eine ausufernde Folterpraxis ermöglichte“.16
Die Entscheidung für die Folter im Fall Lackum und deren Ablauf
Nach Anhörung von 22 von Dietrich Lackum am 3. Oktober 1591 bestellten Zeugen, welche die Angeklagten entlasteten17, zweifelten die klevischen Räte zunächst an der Tauglichkeit der hauptsächlichen Belastungszeugen Jasper von der Ruhr, seiner Mutter Lisa Voß und Adrian Pierschutt, da sie erfahren hatten, dass es sich um „verleumbde Personen“ handelte.18 Der Drost zu Wetter, Bernhardt von Romberg, stellte sich jedoch hinter die Belastungszeugen und überzeugte die klevischen Räte schließlich von der Notwendigkeit der Folter. Am 20. Oktober 1591 gestatteten die Räte aus Düsseldorf die Tortur.19 Georg Lackum wurde über eine lange Zeit gefoltert20, obwohl es an Indizien mangelte, welche die Anwendung der Folter rechtfertigten.21 Der genaue Ablauf der Folter ist in seinem Fall allerdings nicht bekannt. Die Carolina sah für Mörder und Totschläger Methoden wie Daumen- und Beinschrauben, das Zusammenquetschen der Unterarme mit Seilen, das Aufziehen des mit Gewichten beschwerten Körpers an einem Strick, das Überstrecken des Körpers auf der Folterbank und Verbrennen der Haut mit Schwefel, Kerzen oder Fackeln, vor.22 Anton Lackum wurden, wie vermutlich auch seinem Vater, zunächst die Folterinstrumente vorgeführt („Territion“).23 Nach Verweigerung des Geständnisses entkleidete man ihn und folterte ihn liegend auf der Folterbank indem man ihm Beinschrauben anlegte.24
Die Geständnisse
Georg Lackum legte unter der Folter ein Geständnis ab, welches er aber am Peinlichen Gerichtstag (20. November 1591) zunächst widerrief. Ein unter der Folter abgelegtes Geständnis war aber nur dann gültig, wenn es vom Angeklagten am Tag darauf vor einem Richter bestätigt wurde.25 Bei wiederholtem Verhör unter Androhung erneuter Folter26 gestand Georg Lackum schließlich, den Mord begangen zu haben. Nach weiterer Tortur gestand er, dem Geständnisprotokoll zufolge, zudem eine Mittäterschaft seines Sohnes Anton und den Versuch, die Tat zu vertuschen.27
Die protokollierten Aussagen Georg Lackums waren, nach Auffassung der Autoren der Anwaltsschrift der Familie Lackum, allerdings falsch bzw. widersprüchlich28: So wurde unter anderem darauf hingewiesen, dass Georg Lackum, laut Geständnisprotokoll, den Ermordeten zunächst mit einem Beil gegen den Kopf geschlagen haben sollte. Die Leiche habe aber keine Spuren eines Schlages aufgewiesen, sondern lediglich eine Stichwunde. Als Entlastung für Georg Lackum wurde zudem eine Zusammenkunft der Gemeinde Wetter am Tag des Mordes angeführt, an der er teilgenommen haben sollte.29 Allerdings blieb der genaue Tatzeitpunkt bis zum Ende des Verfahrens unklar.
Anton Lackum hatte offensichtlich zunächst seine Unschuld beteuert. Während er gefoltert worden war, hatte er darum gebeten, das Geständnis seines Vaters zu sehen30, welches er in nahezu allen Punkten bestätigt hatte.31 Allerdings widerspricht seine Aussage der seines Vaters in einem Punkt: Dem Protokoll zufolge hatte Anton angegeben, sein Vater habe Johann einen der beiden Steine um den Hals gebunden. In Georg Lackums Geständnis hieß es, er habe dem Opfer einen Stein „voir uff die brust ins hempt“32 getan.
Geständnisse als Quelle für Tatsachen?
Die vorliegenden Geständnisse sind Resultat der Folter und somit besonders zu hinterfragen. Sie widersprechen sich in Teilen. Die Verfasser der Verteidigungsschriften der Familie Lackum wiesen auf diese Ungereimtheiten hin. Von ihnen stammen ebenfalls die Informationen über den Ablauf der Folter Anton Lackums. Auch diese Verteidigungsschriften waren aber zweckorientierte Texte und müssen aus der Sicht des Historikers ebenfalls quellenkritisch hinterfragt werden.
Bei aller Unklarheit über den Tathergang: Der Fall Lackum macht besonders deutlich, dass die Entscheidung für die Folter in der Bevölkerung der Frühen Neuzeit nicht unumstritten war: Die Menschen waren sich der Tatsache bewusst, dass die unter der Folter abgelegten Geständnisse oft nicht zur Wahrheitsfindung beitrugen und unter den Schmerzen der Folter Falschaussagen entstanden.
1 Dülmen, Richard van: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der Frühen Neuzeit, München4 1995 (im Folgenden zitiert als: Dülmen, 1995), S. 29.
2 Schroeder, Friedrich-Christian (Hg.): Die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Heiligen Römischen Reichs von 1532, Stuttgart 2000 (im Folgenden zitiert als: Schoeder, 2000), S. 33.
3 Dülmen, 1995, S.31; Baldauf, Dieter: Die Folter. Eine deutsche Rechtsgeschichte, Köln u.a. 2004 (im Folgenden zitiert als: Baldauf, 2004), S.91ff.
4 Dülmen, 1995, S.25.
5 Dülmen, 1995, S.29.
6 Baldauf, 2004, S.83.
7 Baldauf, 2004, S.90.
8 Baldauf, 2004, S. 85.
9 Zagolla, Robert: Folter und Hexenprozesse. Die strafrechtliche Spruchpraxis der Juristenfakultät Rostock im 17. Jahrhundert (Hexenforschung 11), Bielefeld 2007 (im Folgenden zitiert als: Zagolla, 2007), S. 238ff.
10 Ein guter Zeuge sollte nach Auffassung der Carolina (Schroeder, 2000, S.54) glaubwürdig, unparteiisch, nicht von Hass geleitet und mindestens 20 Jahre alt sein.
11 Baldauf, 2004, S. 91.
12 Schroeder, 2000, S. 54f.
13 Schroeder, 2000, S. 37-39.
14 Siehe hierzu: Zagolla, 2007, S.251f.
15 Schoeder, 2000, 35f.
16 Zagolla, Robert: Art.: Folter, in: Gudrun Gersmann u.a. (Hgg.): Lexikon zur Geschichte der Hexenforschung, auf: www.historicum.net, [URL: http://www.historicum.net/themen/hexenforschung/lexikon/alphabethisch/a-g/art/Folter/html/artikel/4012/ca/e0464ea0ca/], 25.08.09.
17 LAV NRW W, RKG, L 24, Bd. 1, S. 23ff .
18 LAV NRW W, RKG, L 24, Bd. 1, S. 54.
19 Fuchs, Ralf-Peter: Recht und Unrecht im Verfahren Lackum, in: Andrea Griesebner u.a. (Hgg.): Justiz und Gerechtigkeit. Historische Beiträge. 16.-19. Jahrhundert (Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit 1), Innsbruck 2002, S. 149-168 (im Folgenden zitiert als: Fuchs, 2002), hier S.151.
20 Eingabeschrift an das Reichskammergericht, Art. 61 ff.
21 LAV NRW W, RKG, L 24, B 1, folio 86v ff.; vgl. auch Fuchs2002, S.154.
22 Dülmen, 1995, S.32.
23 Eingabeschrift an das Reichskammergericht, Art. 82-83. LAV NRW W, RKG L 24, Bd. 2, fol. 230r-230v.
24 Art. 84. LAV NRW W, RKG L 24, Bd. 2, folio 230v.
25 Schroeder, 2000, S. 50f.; Baldauf, 2004, S.92.
26 Nach der Carolina durfte die peinliche Befragung mehrfach wiederholt werden, bis ein Irrtum glaubhaft gemacht werden konnte (Schroeder, 2000, S. 51).
27 Fuchs, 2002, S.151.
28 Eingabeschrift an das Reichskammergericht, Art. 71-77. LAV NRW W, RKG L 24, Bd. 2, folio 227v-229r.
29 Art. 71-72. LAV NRW W, RKG L 24, Bd. 2, folio 227v.
30 Art. 85. LAV NRW W, RKG L 24, Bd. 2, folio 230v-231r.
31 LAV NRW W RKG L 24, folio 68r-68v.
32 LAV NRW W RKG L 24, folio 69v.