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Der Mordfall Lackum. Justiz und Alltag im "Ruhrgebiet" um 1590
Ralf-Peter Fuchs

Eine virtuelle Ausstellung: Entstehung und Zweck
„Im Mai 1590 entdeckten Bewohner der Freiheit Wetter einen Leichnam, der auf eine Ruhrinsel angetrieben worden war. Die Untersuchung der Todesumstände sollte sich zu einem langwierigen Gerichtsverfahren entwickeln, in das viele Ortsansässige verstrickt wurden ...“.
Die Akte eines Mordfalls aus dem späten 16. Jahrhundert als Ausgangspunkt für die Erkundung des Lebens an der Ruhr in der Frühen Neuzeit – dieses Konzept lag zwei Lehrveranstaltungen zu Grunde, die ich im Sommersemester 2009 am Historicum der Ruhr-Universität Bochum in Kooperation mit dem Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen durchgeführt habe. Es handelte sich um ein Hauptseminar und eine Übung für Fortgeschrittene. In der Übung wurden den Studierenden Kenntnisse zum Lesen frühneuzeitlicher Aktenhandschriften vermittelt. Die dort transkribierten Quellen zum Mordfall Lackum wurden den Teilnehmern des Hauptseminars unmittelbar zur Verfügung gestellt. Deren Aufgabe war es, mit ihren Texten den Fall zu dokumentieren.
Die Übermittlung von Informationen erfolgte zum nicht unerheblichen Teil über die Bochumer Internetplattform „Blackboard“, wo fertige Texte abgelegt und Ideen ausgetauscht werden konnten. Die Einbindung eines E-Learning-Bereichs in den Unterrichtsablauf und die damit ermöglichte Beteiligung Studierender der Universität Duisburg-Essen waren der Grund für eine Unterstützung des Projekts durch RuhrCampusOnline.
Die Ergebnisse werden hiermit einem größeren Kreis von Interessierten im Rahmen einer Internet-Publikation vermittelt. Es geht aber nicht nur um die bloße Präsentation dessen, was in einem Semester gemeinsam erarbeitet wurde. Der Fall Lackum ist bislang in der Historiographie des Ruhrgebietes so gut wie unbekannt geblieben.1 Dies hängt zum einen damit zusammen, dass die Geschichte dieses Raumes eng mit der Industrialisierung verknüpft ist. Ereignisse und Strukturen vor der eigentlichen Entstehung des Raumbegriffes Ruhrgebiet2 haben von daher stets weniger Aufmerksamkeit erfahren als jene Themen, die mit den Entwicklungen der Industriegesellschaft zusammenhängen. Zum anderen hat die Kriminalakte Lackum eine besondere Herkunft: Es handelt sich um eine Reichskammergerichtsakte. Sie stammt aus den Beständen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen – des vormaligen Staatsarchivs Münster. In der Regional- und Landesgeschichtsschreibung ist die Überlieferung des Reichskammergerichts oftmals vernachlässigt worden.
So soll die Ausstellung auch einer Erweiterung der Kenntnisse über das „Ruhrgebiet“ vor dem Ruhrgebiet dienen und damit einem besonderen Interesse an der Geschichte dieses Raumes anläßlich seiner Ernennung zur „Kulturhauptstadt Europas 2010“ entgegenkommen. Die Akte liefert dem Interessierten natürlich kein zusammenhängendes Bild vom Leben an der Ruhr um 1590, immerhin jedoch eine Vielfalt an Einzelheiten. Im Mittelpunkt stehen Aspekte, die rechtsgeschichtlich von Belang sind. Die Schriftstücke geben uns detaillierte Auskünfte über Justiz und Strafvollzug in der Grafschaft Mark, ein Themenfeld, das bislang nur wenig untersucht worden ist. Darüber hinaus erhalten wir z.B. beiläufige Informationen über das Miteinander protestantischer und katholischer Nachbarn, zudem auf die Verbreitung von Gewalt in der Mitte der frühmodernen Gesellschaft etc. Nicht zuletzt wirft die Aktenüberlieferung immer wieder ein Licht auf die Ruhr vor über 400 Jahren: als Nahrungsgrundlage, als Gewässer, das man mit Fähren zu überqueren hatte und das im Juli so seicht war, dass man in der Gegend von Wetter, wie der dortige Drost einmal berichtete, durchgehend bis auf den Grund sehen könne.3 Darüber hinaus wird aber auch deutlich, dass der Fluß seine Opfer forderte. Mehrere Male wird in der Akte von Ertrunkenen berichtet.
Als verfassungs- und verwaltungsgeschichtliche Quelle beinhaltet die Akte Lackum zudem Informationen darüber, wie sich Landesherrschaft in den Ämtern der Grafschaft Mark um 1590 vor Ort gestaltete: Die Kooperation von fürstlicher Zentrale und örtlichen Beamten in Kriminalangelegenheiten wird sehr deutlich, ebenso aber auch Schwierigkeiten bei der Kommunikation. Grundlagen frühneuzeitlicher Verfassungsstrukturen und das Phänomen der Territorialisierung und Bürokratisierung werden somit anhand der überlieferten Schriftstücke im mikrogeschichtlichen Rahmen erfahrbar.
In der virtuellen Ausstellung werden die gewonnenen Informationen, die Bausteine zur Kultur- und Rechtsgeschichte des Ruhr-Lippe-Raumes darstellen, sowohl in den Beiträgen der Studierenden des Hauptseminars als auch in Quellenauszügen präsentiert. Sie sind mit den entsprechenden Hinweisen zur wissenschaftlichen Weiterverwendung aufbereitet. Sie sollen jedoch nicht nur dem Forscher, sondern auch dem an der Geschichte der Frühen Neuzeit interessierten Laien von Nutzen sein. Nicht zuletzt können die Teilnehmer der Lehrveranstaltungen ihre erworbenen Erkenntnisse über ihre eigene Ausstellung gelegentlich auffrischen. Der Erweiterung dieser Kenntnisse soll die Bibliographie dienen, die auch Werke beinhaltet, die beim Lesen alter Schriften dienlich sind.

Der Fall Lackum in Kürze

Worum geht es im Fall Lackum? Im Mai 1590 wurde die vom Wasser angeschwemmte Leiche eines Hausierers entdeckt, der sich auch gelegentlich als Fährmann betätigte. Bei dem Toten handelte es sich um einen Menschen, den man Johann von der Ruhr nannte. Als Verdächtiger kam zunächst jene Person in Frage, bei der Johann von der Ruhr seine Wohnung hatte: Ein gewisser Jasper von der Ruhr bediente zusammen mit seiner Mutter Lisa Voß die Fähre von Wetter. Da Jasper und Johann in Verdacht standen, regelmäßig gemeinsam krumme Geschäfte betrieben zu haben, vermutete man zunächst, Jasper habe Johann zum Schweigen bringen wollen, indem er ihn erstochen und in die Ruhr geworfen habe.
Nach einiger Zeit richtete sich der Verdacht jedoch auf zwei angesehene Persönlichkeiten aus Wetter: den Kramer Georg Lackum genannt Nilken und seinen Sohn Anton, einen jungen Mann von etwa 24 Jahren, der zum katholischen Priester geweiht worden war. Als Motiv kamen Erbschaftsstreitigkeiten in Frage, da Johann von der Ruhr und die Familie Lackum verwandt waren. Der für die Ermittlungen zuständige Droste von Wetter setzte beide in Haft. Unter der Tortur, angeordnet durch die Regierungsräte des Landesherrn, gestanden die Gefangenen, den Mord begangen zu haben. Dietrich Lackum und die anderen Mitglieder der Familie versuchten währenddessen, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um eine Begnadigung und die Freilassung zu bewirken. Sie konnten jedoch nicht verhindern, dass Georg Lackum hingerichtet wurde. Anton Lackum starb einige Tage später unter ungeklärten Bedingungen in der Haft.
Die Hinterbliebenen setzten eine nochmalige Untersuchung des Falles durch eine landesfürstliche Kommission durch, da sie von der Unschuld ihrer Verwandten überzeugt waren. Insbesondere wollten sie bewirken, dass der Leichnam des Georg Lackum, den man zur Abschreckung auf dem Richtplatz verwesen ließ, würdig begraben wurde. Nachdem die Kommission nicht die erwünschten Resultate erzielt hatte, wandten sich Dietrich Lackum und seine Verwandten schließlich an das Reichskammergericht in Speyer.
Der Fall Lackum sorgte unter den Zeitgenossen für großes Aufsehen. In der Region wurde er lebhaft diskutiert und führte dazu, dass sich Menschen aus Dortmund und anderen Orten für den Kramer und seine Familie einsetzten. Ihre Stellungnahmen liefern Informationen von kulturgeschichtlicher Bedeutung, so etwa, wie Totschlags- und Morddelikte und nicht zuletzt auch Hinrichtungen von ihnen beurteilt wurden. Darüber hinaus wurde der Prozeß seit 1601 in der Literatur der Rechtsgelehrten publik gemacht: Unter dem Pseudonym Adrian Gylman wurden die Mandate, die das Reichskammergericht zugunsten der Familie Lackum erließ, veröffentlicht. Die landesfürstlichen Beamten, die für den Tod von Georg und Anton Lackum verantwortlich waren, wurden vor das Reichsgericht zitiert.4

Mitarbeit am Projekt

Der von den Studierenden des Hauptseminars dokumentierte Fall Lackum wurde von der Leseübungsgruppe erschlossen. Da die Namen der Teilnehmer nicht über Einzelbeiträge dokumentiert werden, sollen sie an dieser Stelle namentlich genannt werden: Ariane Cceczor, Fabian Falatyk, Maren Fischer, Stefanie Hussels, Stefanie Kowalski, Maida Kreimendahl, Thomas Müller, Isabel Neuberth, Elke Over, Petra Anita Post, Claus Renzelmann, Tim Scholz, Patrick Schwab und Corinna Seidel haben eine Menge an Text entziffert und so das Projekt wesentlich getragen.
Angela Wasle hat am Konzept mitgearbeitet, sämtliche Transkriptionen noch einmal überprüft und diese schließlich für die Publikation mit mir aufbereitet. Dominik Greifenberg ist für die gestalterische Umsetzung der Gesamtpräsentation verantwortlich. Beide Mitarbeiter gehörten zum Redaktionsteam, das die Beiträge der Studierenden diskutierte und gegebenenfalls Veränderungsvorschläge unterbreitete.
Zum Schluss möchte ich noch Dank für weitere Hilfen ausrichten. Wertvolle Unterstützung für das Projekt gaben Leif Pullich von RuhrCampusOnline, Dr. Thomas Reich vom Landesarchiv Nordrhein-Westfalen und Dr. Dietrich Thier vom Stadtarchiv Wetter. Mit Herrn Kollegen Prof. Dr. Stefan Brakensiek habe ich die Verbindung zur Universität Duisburg-Essen herstellen können. Damit ist das Ruhrgebiet als Kulturhauptstadt Europas 2010 immerhin auch über zwei seiner Universitäten als Projektveranstalter repräsentiert.

1 Lediglich in einem Aufsatz von mir ist er vorgestellt worden: Ralf-Peter Fuchs: Recht und Unrecht im Verfahren Lackum - Ein Kriminalfall mit Widerhall, in: Andrea Griesebner, Martin Scheutz, Herwig Weigl (Hg.): Justiz und Gerechtigkeit. Historische Beiträge (16. - 19. Jahrhundert). Innsbruck 2002 (= Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit 1), S. 149 - 168.

2 Zur Industrialisierung als Grundlage für Raumvorstellungen insbesondere im Ruhrgebiet noch kürzlich: Klaus Tenfelde: Raumbildung als ökonomischer, sozialer und mentaler Prozeß, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 39 (2008), S. 5-19.  Dort befindet sich auch der Hinweis auf den frühesten Nachweis des Begriffs Ruhrgebiet, soweit bekannt, in einer Publikation aus dem Jahre 1867.

3 LAV NRW W (=Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt. Westfalen), RKG L 24, Bd. 2, fol. 503.

4 Adrian Gylmann: Symphorema supplicationum pro processibus super omnibus ac singulis Imperii Romani constitutionibus in supremo Camerae Imperialis Auditorio impetrandis [...], Frankfurt a.M. 1601, hier Bd. 2, S.548-551.

 

 

 

 

 

Layout by Dominik Greifenberg